„Viele Unternehmen verschlafen den Brexit“
Der Brexit ist vollzogen und auch die Übergangsphase ist in wenigen Wochen Geschichte. Egal, welche Vereinbarungen die EU und Großbrtiannien kurzfristig noch treffen - der 1. Januar 2021 bedeutet einen tiefen Einschnitt für den Warenverkehr von und nach Großbritannien. Was Unternehmen dringend beachten müssen, und warum manche sogar Gefahr laufen, die Vorbereitungen zu verschlafen, erläutert Steffen Wiese, Head of Sales, European Logistics, North Central Europe bei DACHSER.
Lässt sich aus Ihrer Sicht ein harter, d.h. ungeregelter Brexit, noch verhindern? Was wären die Konsequenzen eines harten Brexits für den Warenverkehr mit UK?
Noch besteht die Chance auf ein Abkommen. Die Hoffnung schwindet jedoch, je näher der Termin rückt. DACHSER bereitet sich und seine Kunden jedenfalls auf einen harten Brexit vor, um für alle Szenarien gewappnet zu sein.
Durch die Zollabwicklung wird der Warenverkehr erheblich komplizierter, teurer und zeitlich aufwändiger. Im Fall eines harten Brexit rechnen wir vor allem zu Beginn des Jahres mit erheblichen Störungen beim Transport. Wir beobachten, dass einige Unternehmen schon Konsequenzen gezogen haben und Standorte in die Europäische Union verlagert haben. Einige Geschäftsmodelle machen unter dem Aspekt der Zollabwicklung kaum noch Sinn und werden sich zwangsläufig verändern. So werden sich B2C- Sendungen durch die Zollabwicklung verteuern, auch wenn es bis zu einem bestimmten Warenwert Vereinfachungen gibt. Für einige Versender wird dies dann nicht mehr interessant sein. Auch die Versorgung des europäischen Markts von Großbritannien aus wird aufwändiger in Hinblick auf Zeit und Kosten. Viele Versender haben daher schon Distributionszentren in Richtung EU verlagert.
Sind die Unternehmen, bzw. die Kunden von DACHSER in Deutschland und Europa darauf vorbereitet? Wo sehen Sie Nachholbedarf?
Neben den gut vorbereiteten Unternehmen gibt es auch etliche, bei denen noch dringender Handlungsbedarf besteht. Dort wurde zu lange abgewartet, was spätestens ab 1. Januar zu Problemen führen wird. Speziell Unternehmen, die bisher ausschließlich den Europäischen Binnenmarkt beliefern, fehlt oft das notwendige Zoll Know-how.
Viele Unternehmen rechnen wohl damit, dass durch einen Deal alles so bleibt, wie es ist. In der öffentlichen Wahrnehmung und auch in vielen Unternehmen hat zudem die Covid-19-Pandemie das Thema Brexit in den Hintergrund gedrängt.
Wichtig ist jedoch zu wissen: Was auch immer in den nächsten Tagen und Wochen auf der politischen Ebene passieren wird, das Thema Zollabwicklung wird in jedem Fall relevant für Versender und Empfänger von Waren zwischen EU und UK. Sich darauf entsprechend vorzubereiten ist also unumgänglich.
Ganz allgemein gefragt: Was muss ein Unternehmen unbedingt beachten, das nach dem 1.1.2021 Waren nach Großbritannien ein- oder ausführen will?
Versender müssen zunächst prüfen, inwiefern ihre Supply Chains betroffen sind. Insbesondere sind die notwendigen Informationen und Dokumente für eine Zollabwicklung vorzubereiten, damit wir uns als Logistiker um die Ein-und Ausfuhrzollformalitäten kümmern können. Dazu gehört unter anderem die EORI Nummer. Zudem ist eine Zollvollmacht der jeweiligen Importeure essentiell für die Abwicklung der Sendungen von und nach UK. Wir bitten unsere Kunden daher, ihre Empfänger darauf hinzuweisen, uns den jeweiligen Importeur zu nennen um die notwendige Zollvollmacht anzufordern.
DACHSER selbst ist gut vorbereitet, die zukünftige Zollabwicklung für die Warentransporte zwischen EU und Großbritannien möglichst reibungslos zu gestalten. Nun ist es an den Versendern, nochmals genau zu prüfen, ob ihrerseits alle Vorbereitungen getroffen sind. Dafür haben wir im Internet eine Checkliste veröffentlicht. Hier sehen unsere Kunden auf einen Blick, was alles zu beachten ist. Und selbstverständlich steht ein lokaler Ansprechpartner bei DACHSER immer bereit, noch offene Fragen zu klären.
Der „Worst Case“ ist ganz klar: Die Ware bleibt stehen beim Versender und wird gar nicht erst von uns abgeholt. Denn nur wenn alle notwenigen Unterlagen für die Verzollung vorliegen, kann der Transport starten. Hier gibt es ab 1. Januar weder Übergangsfristen noch Ausnahmen, die Unterlagen können auch nicht nachgereicht werden. Für uns als Logistiker ist der Transport anders gar nicht mehr möglich. Im schlimmsten Fall laufen die Lager bei den Unternehmen über, die Ware bleibt stehen.
Steffen Wiese ist Head of Sales, European Logistics, North Central Europe bei DACHSER
Wie bereitet sich DACHSER als Logistikunternehmen konkret vor?
DACHSER bereitet sich schon seit Jahren auf den Brexit vor. Intern wurde dafür ein Projektteam gebildet, in der sich Experten aus den verschiedensten Unternehmensbereichen mit dem Brexit auseinandersetzen – von Fragen der Verzollung über Mengensteuerung, Verkehrsführung bis hin zu IT-, Personalfragen und Kommunikationsthemen.
Insbesondere im Bereich Zoll haben wir investiert und Softwarelösungen zur effizienten Abwicklung der Zollprozesse geschaffen, um für alle Eventualitäten gewappnet zu sein. Neben zusätzlichen Ressourcen in der IT-Infrastruktur sorgen wir bei unserer britischen Landesgesellschaft DACHSER UK sowie bei DACHSER Ireland für ausreichend Personal, speziell im Bereich Zoll. Auf europäischer Seite verfügen wir in unserem internationalen Logistiknetzwerk über genügend Expertise und Ressourcen. Wir haben zusätzlich eine interne Task Force gebildet, um ab dem 1. Januar 2021 unsere Kollegen in Großbritannien und Irland sowie unserer Versand-Plattformen in der EU zu unterstützen. Die Mitglieder der Task Force werden für die entsprechenden Systeme geschult, um einen eventuellen Mehraufwand stemmen zu können. Unsere Landesgesellschaften arbeiten dabei eng zusammen, um eventuelle Störungen möglichst gering zu halten. Unser AEO-Status in Großbritannien und in zahlreichen EU-Staaten fördert zudem eine möglichst schnelle und reibungslose Zollabwicklung.
Wie sieht die Lage in der Republik Irland aus? Die meisten Verkehre von und nach Irland werden ja über den Ärmelkanal abgewickelt. Gibt es alternative Routen?
Auch beim Warentransport nach Irland ist mit Behinderungen zu rechnen. Insbesondere jedoch die Abwicklung mit Nordirland ist noch unklar, das ist bekanntermaßen ein sehr politisches Thema. Alternative Routen nach Irland gibt es und durch die Fährunternehmen werden alle Möglichkeiten geprüft. Allerdings ist hier mit einer Laufzeitverlängerung zu rechnen.
Nach jahrelangen Brexit-Vorbereitungen: Was haben Sie in dieser Zeit gelernt?
Flexibel bleiben ist das Wesentliche, denn man muss immer mit Überraschungen rechnen, insbesondere von politischer Seite. Meine persönliche Hoffnung ist, einerseits, dass die prognostizierten Schreckensszenarien mit tausenden LKW, die auf beiden Seiten des Kanals festhängen, nicht eintritt und der Prozess auch seitens der Behörden effizient umgesetzt wird. Andererseits bin ich gespannt, wie sich die Wirtschaft weiterentwickelt und ob der Brexit zum abschreckenden Beispiel wird für andere Austrittsbestrebungen.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Wiese!