Die Lehren aus dem Lieferkettenstress
Die Pandemie, geopolitische Spannungen, Nachhaltigkeitsziele und Digitalisierung haben die Lieferketten belastet und die Luft- und Seefracht neu herausgefordert. Diese Lehren zieht Matthias Gonzi, Head of Sales Air & Sea Logistics bei DACHSER Austria, daraus:
Muss eine chinesische Fabrik für medizinische Produkte wie Kontrastmittel schließen, kann es passieren, dass in Europa Operationen verschoben werden. Warum? Ohne Kontrastmittel können Ärzte keine Diagnosen stellen. Normalerweise wird der Seeweg genutzt, da er günstiger und umweltfreundlicher ist. Der Luftweg wird für zeitkritische Fracht genutzt. Sei es, um ein neues Produkt auf den Markt zu bringen, um dringend benötigte Schlüsselkomponenten zu liefern oder um einen nicht vorrätigen Artikel schnell wieder aufzufüllen. In der Pandemie verlagerten sich jedoch viele Seefrachten in die Luft.
Geschwindigkeit und Flexibilität blieben gerade in der Pandemie entscheidende Faktoren für die Wettbewerbsfähigkeit
Die Seefracht mag zwar günstiger sein, dauert aber vier Wochen – zu lange für etwa Modehändler. Per Luft kann in einem bis vier Tagen geliefert werden. Es gibt weniger Zwischenstopps, die Luftfracht ist also eine schnelle und verlässliche Option. Auch wenn ihre Waren dadurch teurer wurden, waren viele Unternehmen gefordert, auf den Luftweg auszuweichen. Besonders bei hochwertigen, verderblichen oder zeitkritischen Gütern, wie z. B. medizinische oder chemische Produkte und Elektronik. Prognosen gehen davon aus, dass sich der Luftfrachtverkehr bis 2035 mehr als verdoppeln wird.
Der „Lieferkettenstress” war zwar fordernd, aber lohnend für Spediteure
Der See- und Luftfrachtbereich konnte in der Zeit höhere Margen erzielen. Seefrachtcarrier nutzten das, um gewaltig in europäische Hafen-Infrastruktur zu investieren. Die zunehmende Konzentration bei Reedereien hin zu wenigen Allianzen ließ wenig Spielraum für Alternativen. Jetzt, wo Covid-19 nicht mehr dominiert und etwa der Bedarf an medizinischen Gütern gesunken ist, haben sich Angebot und Nachfrage wieder eingependelt. Die Staus in den Häfen haben sich aufgelöst, die Seefracht ist wieder planbar. Da China alle Covid-Beschränkungen aufgehoben hat, und nun auch Linienflüge von und nach China wieder stattfinden, sind die Kapazitäten in der Luftfracht weiter gestiegen.
Nachhaltigkeit spielt eine immer wichtigere Rolle. Die Umstellung hat aber seine Tücken
Die Seefracht verursacht vergleichsweise weniger CO₂-Emissionen pro Tonne und Kilometer als andere Verkehrsträger. Um die IMO 2023-Regelungen zu erfüllen, ist sie außerdem gefordert, ihre Emissionen weiter zu reduzieren. Diese Regelungen klassifizieren Schiffe nach Energieeffizienz und Schiffsemission und zielen darauf ab, den Schadstoffausstoß des Schiffsverkehrs bis 2030 um 40 % und bis 2050 um 70 % gegenüber den Werten von 2008 zu senken. Dieses Jahr wird sogar ein Netto Null Ziel der IMO erwartet. Eine Möglichkeit zur Senkung der Treibhausgase sind derzeit alternative Treibstoffe wie LNG (Liquefied Natural Gas) oder Biofuels. In der Luftfracht kann bereits heute SAF (Sustainable Aviation Fuel) eingesetzt werden. Diese sind jedoch teurer. Unternehmen müssen ihren ökologischen Fußabdruck berechnen, nachweisen und später neutralisieren. Dies erfolgt oft durch den Kauf von SAF-Kontingenten. Der Schadstoffausstoß kann effektiv derzeit, neben alternativen Kraftstoffen, besonders durch eine Reduktion der Geschwindigkeit verringert werden, was sich jedoch negativ auf Laufzeiten und Produktivität auswirkt.
Die Vorwärts/Rückwärtsintegration wird ein Trend in der Seefracht
Reedereien bieten seit einigen Jahren nicht nur den Hauptlauf an, sondern auch Vor- und Nachläufe per Schiene an. So können Schiffscontainer von einem lokalen Bahnterminal bis zum Empfänger mit einem Reeder gebucht werden. Dies hat insbesondere in den USA die Zustellmöglichkeiten verbessert, und dazu beigetragen, den Mangel an Lkw-Fahrern und -Fahrerinnen, der dort seit Jahren akut ist, zu verringern. Spediteure nutzen diese Vorlaufprodukte gerne. Mittlerweile werden Teiltransporte per Schiene immer mehr zur Pflicht, um die Containerabnahme in den Terminals zu erleichtern.
Digitalisierung bleibt ein Schlüsselfaktor für Effizienz und Transparenz
Obwohl es elektronische Frachtbriefe und Air Waybills gibt, wird im Transportwesen immer noch viel mit Papier gearbeitet. Dies verzögert den Informationsfluss und erschwert die Sendungsverfolgung. Die Digitalisierung kann diese Prozesse vereinfachen und beschleunigen sowie mehr Transparenz bieten. Besonders Online-Händler und Verbraucher profitieren von einer lückenlosen Transparenz über den gesamten Transportweg. Trotz vieler Bemühungen hat sich das „papierlose Büro” in der Speditionswelt noch nicht durchgesetzt. Der Druck zur Digitalisierung steigt jedoch. Denn es erleichtert eine transparentere und schnellere Zusammenarbeit mit allen Beteiligten. So gibt es außerdem einen Zusammenhang zwischen Sendungsgröße und benötigter digitaler Transparenz. Das zeigt sich exemplarisch an der Luftfracht, wo Sendungen immer kleiner werden, und Kunden mittlerweile eine digitale Nachverfolgung der Transportwege erwarten. Wohin da die Reise führt, lässt sich schon heute am Paketbereich ablesen. Dort ist die Digitalisierung schon viel weiter – oder wie oft müssen Sie noch auf Papier unterschreiben, wenn ein Paket ankommt?